sehr interessant und stimmt:
Referat von Gabriele Schallenmüller
Im Rahmen meiner Ausbildung zum betrieblichen Suchthelfer habe ich mir Gedanken zur Rückfallprophylaxe gemacht. Dieses Referat richtet sich an alle, die mit Alkoholismus zu tun haben, sei es aus eigener Betroffenheit oder als Suchthelfer. Selbst Außenstehende können davon profitieren. Sie werden sehen, dass sich dieses Thema auch auf andere Lebensbereiche übertragen lässt und als Lebenshilfe angewandt werden kann. Ich bitte nun um Ihre Aufmerksamkeit. Vor etwa 10 Jahren gab es noch so gut wie keine Untersuchungsergebnisse über Rückfälligkeit. Auch heute noch steckt die Rückfallforschung in den Kinderschuhen. Inzwischen liegt jedoch eine Reihe von recht gut abgesicherten Ergebnissen zu Häufigkeit, Verlauf, Entstehungsbedingungen, Folgen und Maßnahmen zur Vorbeugung von Rückfällen vor. Es ist von großer Bedeutung, diese Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, weil Rückfälle dadurch in einem neuen Licht erscheinen und manche zweifelhafte Gewissheiten über Rückfälligkeit ins Schwanken geraten. Wie steht es nun mit den Erfolgsaussichten einer Entwöhnungsbehandlung? Dauerhaft abstinent bleiben ungefähr 50 % der Patienten nach einer längerfristigen stationären Entwöhnungsbehandlung, auch Kur genannt. Weitere 15 % haben einen Rückfall, aus dem sie sich aus eigener Kraft wieder lösen und zur Abstinenz zurückkehren. Dies unterstreicht, da Rückfälle zumindest für die Hälfte der Abhängigen langfristig eher die Regel und nicht die Ausnahme sind. Alkoholismus ist eine Krankheit. Wenn man die gleichen strengen Maßstäbe einer konsequent geänderten Lebensführung als Therapieerfolg an andere Krankheiten anlegt, wie z. b. Herzerkrankungen oder Diabetes, dann wird man dort gewiss mehr Rückfälle finden. Der Rückfall beim Alkoholiker ist aber mit erheblichen Verhaltensänderungen verbunden und deshalb dramatischer, so dass er anders gewichtet wird.
Getrennt nach Geschlechtern betrachtet, haben eineinhalb Jahre nach Therapieende bereits 53 % der Alkoholikerinnen Rückfallerfahrungen gesammelt, während von den Männern erst vier Jahre nach Therapieende in etwa so viele, nämlich 51 % rückfällig sind. Deshalb ist zu schließen: Frauen werden schneller rückfällig als Männer. Die Gründe für diese geschlechtsspezifischen Rückfallentwicklung liegen noch weitgehend im Dunkeln. Die häufige Mehrfachabhängigkeit von Frauen (alkohol- und medikamentenabhängig), die geringere Teilnahme von Frauen an Nachsorgemaßnahmen bzw. unzureichende frauenspezifische Nachsorgeangebote sind einige plausible Hintergründe.
Im Alltag der Suchtbehandlung wird entgegen diesen Tatsachen manchmal der Eindruck vermittelt, als sei der Rückfall die Ausnahme. Dieses Denken kann das häufig verwendete V-Schema nahe legen: Bis zum vollständigen Eingestehen der eigenen Niederlage und Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol geht es bergab, mit dem Willen zur Veränderung steil bergauf. Dies ist – wie wir gesehen haben – bereits nach wenigen Jahren für viele Abhängigen eine Illusion! Daher ist es unabdingbar, das Schema nicht ohne den erläuternden Zusatz zu sehen:
Ein Ausstieg ist an jedem Punkt möglich, Rückschritte beim Genesungsproze kommen vor, führen jedoch nicht zwangsläufig auf den Nullpunkt zurück.
Das V-Schema charakterisiert einen Idealverlauf, der in der Realität eher selten anzutreffen ist. Der Rückfall und damit eine Unterbrechung des Aufwärtstrends ist in der vereinfachten schematischen Darstellung nicht vorgesehen. Man kann daher so weit gehen, die oberflächliche Verwendung des V-Schemas als schädlich anzusehen, da dadurch unrealistische Erwartungen hervorgerufen und Enttäuschung, Schuldgefühle und Resignation vorprogrammiert werden. Derartige V-Schemata legen dem Rückfälligen nämlich nahe, seinen Rückfall als Rückschritt (Zerstörung der Heilung) und als Versagen zu verbuchen.
Nach den bisherigen Überlegungen scheint es angebracht, dass man sich Leben und dessen Veränderungen am besten als eine Prozess vorstellt, in dem es Fortschritte und auch Stagnations- oder Rückschrittphasen gibt. Der Rückfall scheint zum menschlichen Leben und zur menschlichen Entwicklung schlechthin dazuzugehören. Er ist keine Eigentümlichkeit von Süchtigen Weshalb sehen wir über unsere eigenen Rückfälle erhaben hinweg und tun den Rückfall von Alkohol- oder Drogensüchtigen als moralische Untat ab? Schon in der Bibel steht: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Matthäus 7,3
Ich möchte nun die wichtigsten Überlegungen zusammenfassen: Es gibt nicht den Rückfall. Zwischen einem schweren Rückfall, einem Ausrutscher, einem trockenen Rückfall und kontrolliertem Trinken gibt es erhebliche Unterschiede. Das heißt unter anderem: Rückfallzeitpunkte und Rückfallverläufe sind sehr variabel. Rückfälle sind selbst nach intensiver stationärer Behandlung auf lange Sicht eher die Regel und nicht die Ausnahme. Frauen werden schneller rückfällig als Männer. Sie suchen seltener Selbsthilfegruppen auf und die derzeitigen Gruppen führen bei Ihnen seltener als bei Männern zur Rückfallverhinderung. Rückfälle sind Bestandteil menschlicher Entwicklung und nicht die Abweichung vom normalen Gesundungsprozeß. Manchmal gilt: Ohne Rückfall keine stabile Veränderung! Die Aussage „Das erste Glas endet notwendigerweise im Kontrollverlust“ erweist sich häufig als Mythos und eine sich selbst erfüllende Prophezeihung. Rückfälle haben keine naturgesetzliche Eigendynamik. Der trockene Alkoholiker sollte Alkohol in jeder Form meiden. Bestimmte Medikamente, sowie alkoholfreies Bier sollten nicht zu sich genommen werden. Der enthaltene Alkohol in diesem Bier ist zwar in vielen Fällen nicht für den Rückfall verantwortlich, doch der Geschmack von alkoholverfeinerten Süßspeisen und Speisen, sowie der Geschmack und das Aussehen von alkoholfreiem Bier könnten den Alkoholiker verleiten, wieder normales Bier zu trinken. Anhaltende Rückfälle haben oft schwerwiegende Auswirkungen. Rückfälle entstehen aus einem Bedingungsgefüge sich wechselseitig beeinflussende Faktoren. Rückfallursachen können nicht auf Haltlosigkeit oder einen Willen zum Trinken reduziert werden. Auch das Verlangen nach Alkohol oder Uneinsichtigkeit sind keine primären Rückfallursachen. Rückfälle stellen eine sinnhafte (Pseudo-) Lösung dar. Zum Beispiel bei unüberwindlich erscheinenden (Selbstwert- und Beziehungs-) Krisen. Rückfälle könnenin diesem Sinne als Widerstand gegen Veränderung verstanden werden. Rückfälle sind Entwicklungschancen: Sie bringen die Realität zurück und verweisen auf notwendige tiefergehende Veränderungen bzw. auf die Akzeptanz der eigenen Begrenztheiten.
Die derzeitige Behandlungspraxis begünstigt schwere Rückfälle u. a. dadurch, dass sie das Rückfallthema nicht gebührend berücksichtigt, auf Rückfälle nicht vorbereitet, und zum Teil werden Mythen über Rückfälligkeit weitergegeben. Das Thema des Rückfalls sollte präventiv in die Behandlung einbezogen werden. Dabei sollte auch der in vielen Abhängigen schlummernde Wunsch nach normalem bzw. kontrolliertem Trinken angstfrei und sanktionsfrei zur Sprache kommen. Kompetenzen für den Umgang mit Rückfallgefahren und Rückfälligkeit sollten vermittelt werden.
Ambulante Nachsorge (Selbsthilfegruppen, Beratung, Psychotherapie) beugt Rückfällen wirksam vor und kann beginnende Rückfälle wirksam auffangen. Rückfällige meiden Selbsthilfegruppen viel häufiger als Abstinente, obwohl die Gruppen gerade bei ihnen äußerst hilfreich sind. Selbsthilfegruppen sollten ihre Angebote nicht zuletzt für Rückfällige schmackhafter machen.
Helfer sollten sich mit dem Rückfallthema vermehrt auseinandersetzen, um eigenem Belastungsstress und Verschleiß vorzubeugen. Der Weg aus der Sucht braucht seine Zeit. Mehr Geduld, Gelassenheit und Toleranz für den Lebensweg anderer Menschen sind angebracht. Aufwertung des Alkoholverzichts und Vermeidung von unnotwendigen Vorwürfen, Streitigkeiten und Kontrollen in der ersten Abstinenzzeit, da die Patienten noch Monate wenig belastbar sind und erst nach größerem Zeitabstand eine realistische Bewertung Ihres früheren Verhaltens vornehmen können.
Was kann man also tun, damit es nicht zu Rückfällen kommt?
Die wichtigsten psychologischen Gesundheitsförderer sind:
Selbstachtung
Die Fähigkeit, herzliche Beziehungen zu anderen einzugehen
und Sich für das eigene Leben verantwortlich fühlen Die besten Aussichten auf einen Therapieerfolg haben Patienten, die sich für eine Langzeittherapie entscheiden, sie beenden und sich anschließend einer Nachsorge- oder Selbsthilfegruppe anschließen. Außerdem wirkt es sich günstig auf den Therapieerfolg aus, wenn der Patient in einer intakten Partnerschaft mit Kindern im eigenen Haushalt lebt, wenn er Arbeit hat und von mittlerem Alter so um die 40 ist. Diese wissenschaftlich erhobenen Daten bestätigen eigentlich nur, was uns der Alltagsverstand nahelegt: Jemand behält ein geändertes Verhalten dann besonders hartnäckig und dauerhaft bei, wenn er von dessen Notwendigkeit überzeugt ist, auch Vorteile dabei erlebt, von außen Unterstützung erfährt, in stabilen Umständen lebt, persönlich nicht zu sehr nach außen orientiert und risikosuchend ist und das neue Verhalten einem sinnstiftenden Rahmen einordnen kann. Langfristig abstinent bleibt meist nur der, der seinen Lebensstil in diesem Sinne ausgewogen gestaltet und der sich dann auch nicht auf diesen Lorbeeren ausruht, sondern selbstverantwortlich sein Leben weitergestaltet.
Das hört sich gut an, aber was soll man dabei beachten?
Erstens tut in der Anfangszeit der Nüchternheit ein Sicherheitsabstand zum Trinken gut. Biergärten, Weinfeste, Vatertagsausflüge, bestimmte Stammtische oder Frühschoppen sollten besser gemieden werden. Als einzig Nüchterner fühlt man sich in einem Kreis zunehmend Betrunkenwerdender ohnehin nicht wohl. Wie beim autofahren hat der Sicherheitsabstand nichts mit zitternder Ängstlichkeit und Unfähigkeit zu tun, sondern mit aus Erfahrung geborener Selbstverantwortlichkeit.
Zweitens benötigt man positive Ziele für die es sich lohnt, abstinent zu bleiben. Abstinenz selbst ist nämlich kein Ziel an sich, denn Abstinenz ist etwas, was man nicht tut: Nicht-Trinken. Positive Ziele sind solche, die von sich aus dazu beitragen, dass Abstinenz immer selbstverständlicher wird, z. B. aktive Freizeitgestaltung, Selbständigkeit und Genussfähigkeit. Wichtig ist vor allem, dass die Annäherung an seine Ziele für den Betreffenden persönlich befriedigend ist. Ziele wie den Führerschein machen, Arbeit bekommen oder einen Partner finden sind nur kurzfristig wirksam, nämlich so lange, bis das Ziel erreicht ist oder man aufgibt. Überlegen sie einmal selbst was dem Leben Ziel, Sinn und Ausrichtung verleiht, ohne sich dabei kurzfristig zu verschleißen.
Insgesamt sollte man bei seiner Lebensgestaltung darauf achten, dass ein gesundes Verhältnis zwischen dem, was man soll und dem was man will, erreicht wird. Wer zuviel als Muss, Soll oder gar alles nur als Pflicht erlebt, glaubt nämlich leicht, dass er sich auch mal etwas gönnen sollte. Und das ist dann nur zu oft der Alkohol.
Drittens ist eine realistische Selbsteinschätzung notwendig. Sie ist schon deshalb wichtig, weil man sonst seine Ziele zu hoch oder zu niedrig setzt und dann aufgibt. Für eine realistische Selbsteinschätzung ist die Rückmeldung aus einer (Selbsthilfe-) Gruppe von großem Wert. Zentral für das Selbstbild jedes Abhängigen ist das Anerkennen der eigenen Unfähigkeit, unproblematisch mit Suchtmitteln umgehen zu können.
Nur auf dieser Grundlage kann sich die Weisheit entwickeln, zwischen dem zu unterscheiden, was man ändern kann, und dem, was man hinnehmen muss. Zur Selbsteinschätzung gehört dann auch die Fähigkeit, Warnsignale auf dem abschüssigen Weg zur Flasche oder Pille rechtzeitig zu erkennen. Viertens muss man etwas tun für sich und seine Ziele. Denn wenn man sich selbst, seine Fähigkeiten und seine Sicherheit gegenüber dem Suchtmittel richtig einschätzt und seine Ziele kennt, muss man dafür aktiv werden und bewusst das Heute gestalten und die Ablehnung von Alkohol deutlich zum Ausdruck bringen.
meint aber auch, dass man sich selbst weiterentwickelt, indem man positiv denkt und handelt, zu seinen eigenen Gefühlen steht und sie direkt äußert, seine eigenen Rechte und die der anderen achtet, Vermeidungsverhalten unterbindet, auf andere Menschen zugeht, regelmäßig etwas für sein körperliches und seelisches Wohlbefinden tut (Inseln im Alltag) die Selbsthilfegruppe besucht sowie Ehrlichkeit und Klarheit zur Richtschnur seines Handelns und Denkens macht. Jede Abweichung davon sollte als Warnsignal betrachtet werden, das Anlass zur Selbstüberprüfung ist. Kurz gesagt geht es um den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Ausbildung der Fähigkeiten dafür. Besonders wichtig ist die Kenntnis und Ausführung von Umkehr- oder Abzweigmöglichkeiten, wenn man die oben genannten Warnsignale auf seinem Lebensweg wahrnimmt.
Fünftens sollte die Zeit der Therapie zum Rückfallbauen im Sandkasten, nämlich zum trockenen Durchdenken von ganz persönlichen Rückfallmöglichkeiten nutzen: Unter welchen Umständen habe ich in meinem Leben schon einmal einen Vorsatz (z. B. zur Treue) abgeändert? Was könnte meinen Vorsatz zur Abstinenz erschüttern? Zu welcher Art Unausgewogenheit des Lebensstils neige ich? Schone oder überfordere ich mich eher zuviel? Welche meiner positiven oder negativen Eigenschaften könnten mich in welche Zwickmühle bringen? In welchen Momenten wird in mir den Wunsch wach, ich sollte mir etwas Gutes gönnen , woran merke ich das und wie gehe ich damit um, was mache ich? Dies und ähnliche Fragen helfen bei der Lebensplanung ebenso, wie die Analyse von Gefahrenquellen einer Sicherheitsfachkraft hilft, diesen Gefahren vorzubeugen, statt sie erst bei ihrem Auftreten bekämpfen zu müssen.
Sechstens muß man die Gelassenheit haben anzuerkennen, was man nicht ändern kann und daraus gegebenenfalls die Konsequenzen ziehen: Wenn die Umwelt anders ist, als ich sie haben möchte, ich sie aber trotz meiner Versuche nicht ändern kann und ich sie andererseits auch nicht aufgeben will, dann muß ich sie hinnehmen. Wenn ich mir mein Leben vermiesen will, kann ich mich ständig darüber beklagen, aber ich kann es auch zunehmend gelassener hinnehmen, wenn ich will. In diesem Sinne verstehen wohl die Anonymen Alkoholiker den „Gelassenheitsspruch“
Als Leitgedanken für ein abstinentes Leben:
Gott gebe mir
die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut,
Dinge zu ändern,
und die Weisheit,
das eine vom anderen
zu unterscheiden. R. Niebuhr
(frei nach Epiktet)
Mit diesem Gelassenheitsspruch möchte ich mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und hoffe, Ihnen einige Anregungen zur Rückfallprophylaxe gegeben zu haben.
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