Kachelmann: Propaganda & RechtFür die wissenschaftliche Publikation "Litigation-PR: Alles was Recht ist" hat Alice Schwarzer das Vorwort geschrieben. Sie warnt:
Der Rechtsstaat ist in Gefahr.Sie alle werden den Kachelmann-Prozess verfolgt haben. Sie alle werden eine Meinung zu dem Fall haben. Und Sie (fast) alle werden überzeugt sein, ich hätte geschrieben, der Angeklagte sei schuldig und seine Ex-Freundin sage nichts als die Wahrheit.
Was falsch ist. Sie (fast) alle haben sich täuschen lassen. Auch Sie sind ein Opfer dessen, was wir hier Litigation-PR nennen.Auf den tatsächlichen – überprüfbaren – Sachverhalt werde ich noch zurückkommen. Lassen Sie mich vorab darlegen, warum mir das Thema Litigation-PR gerade heute so wichtig scheint, dass ich ein Vorwort zu diesem Band schreibe: Weil der Versuch der direkten Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Bezug auf einen Prozess und seine ProtagonistInnen – und damit die indirekte Beeinflussung des Gerichts – inzwischen Dimensionen erreicht hat, die den Rechtsstaat gefährden. Die Klassenjustiz ist wieder eingeführt. Denn Litigation-PR ist eine Frage des Geldes. Dafür ist der Kachelmann-Prozess ein exemplarisches Beispiel.Wie viele meiner KollegInnen war auch ich in meinem langen Berufsleben immer wieder mal als Gerichtsreporterin tätig, schon zu Beginn bei der Tageszeitung ging es dabei ebenso um den in der Regel „jugendlichen Autoknacker“ wie um den in der Regel „armen Frauenmörder“. Das ist Gerichtsalltag. In spektakulären Prozessen wie dem Fall Kachelmann aber geht es nicht nur um die Schuldfrage eines Einzelnen, sondern werden weit darüber hinaus gesellschaftlich akute Fragen exemplarisch verhandelt.
So schon 1961 apropos des Prozesses gegen Vera Brühne. Sie sollte aus Habgier einen Liebhaber umgebracht haben. Doch bereits als das „Lebenslänglich“ gesprochen wurde, vermuteten viele, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Fehlurteil handele. Dahinter verbargen sich massive andere Interessen (Waffenhandel?) sowie das ideologische Klima der bigotten Nachkriegszeit, in der die leichtlebige Brühne als „Flittchen“ galt, über das sich schein-biedere Hausfrauen und Ehemänner ostentativ empören konnten.
Oder der Prozess gegen den beliebten Ex-Boxweltmeister Bubi Scholz im Jahr 1984. Er hatte seine Frau, die sich aus Angst in der Toilette eingeschlossen hatte, durch die Türe mit einem Luftgewehr erschossen. Scholz stand für den verunsicherten Mann mit der zu emanzipierten Frau. Während das einstige Männer-Idol arbeitslos war, führte seine Frau eine erfolgreiche Parfümerie auf dem Ku’damm. Die Tat „glich einem Selbstmordversuch, so abhängig, wie Gustav Scholz von seiner Frau war“, schrieb damals Gerhard Mauz im Spiegel. Die Richter hatten ein Einsehen: drei Jahre, davon ein Jahr auf Bewährung. „Unser Bubi bald frei“, jubelte Bild.
Erste Pointe: Seine „Neue“, die er zu dem Zeitpunkt seit fünf Jahren kannte, holte ihn nach zwei Jahren am Gefängnistor ab. Zweite Pointe: Der ja nicht wegen Mordes verurteilte Bubi Scholz kassierte auch noch die Lebensversicherung über 650.000 DM seiner von ihm getöteten Frau. Zu der Zeit ist die „Verletzung der Männerehre“ tatsächlich noch eine strafmildernde Kategorie im deutschen Strafrecht und eine selbstverständliche Floskel in der Urteilsbegründung.
Oder auch die drei Prozesse im Fall Weimar in den Jahren 1986 bis 1999. „Mutter Weimar“ stand für die „Rabenmutter“. Auch hier ein schwacher Mann und seine berufstätige Frau, die zu allem Überfluss auch noch einen jüngeren Liebhaber hatte. Auch Monika Weimar wird, fast wortgleich, als „ihm überlegen“, „kalt“ und „schmallippig“ beschrieben. Die Mutter wurde für den Tod ihrer beiden Töchter einmal schuldig, einmal frei und ein drittes Mal wieder schuldig gesprochen. Die Berichterstattung von Gerhard Mauz im Spiegel und seiner späteren Nachfolgerin Gisela Friedrichsen in der FAZ war nach Meinung vieler Beobachter entscheidend für den letzten Schuldspruch. Für sie war Monika Weimar eindeutig die Täterin. Doch die Doyenne der deutschen Rechtspsychologie, Prof. Elisabeth Müller-Luckmann, Gutachterin im Weimar-Prozess, war noch 2009 im Gespräch mit EMMA davon überzeugt, dass die Mutter unschuldig und der Vater der Täter gewesen sei. Doch der war nie auch nur vernommen worden.
Will sagen: Recht wird nicht im emotions- bzw. interessenfreien Raum gesprochen. Und Richter sind a) auch nur Menschen und b) beeinflussbar. Von den zahllosen Prozessen gar nicht zu reden, in denen muslimische Frauen- und Töchtermörder in den 1980er und 1990er Jahren freigesprochen oder zu verständnisvollen Mindeststrafen verurteilt wurden – wegen der „anderen Sitten“ und weil auch ihre Opfer gegen die Ehre, in dem Fall gegen die „Familienehre“ verstoßen hatten. Das änderte sich erst nach 9/11 allmählich.
Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen, doch die wenigen Beispiele sollen genügen, um in Erinnerung zu rufen: Stimmung ist immer gemacht worden. Und selbst unumstößliche Fakten können so oder so interpretiert, können als „Mord“ oder „Totschlag“ klassifiziert werden – was entscheidend ist für das Strafmaß.
Richter haben einen dem Laien weitgehend unbekannten, gewaltigen Ermessens-Spielraum beim Strafmaß.
Und genau da setzt die Litigation-PR an. Mit der Diskreditierung mutmaßlicher Opfer und Reinwaschung der Angeklagten – bzw. mindestens dem Säen von Zweifeln, was im Rechtsstaat bekanntlich zum Freispruch führt. In mehreren der folgenden Beiträge wird mit gutem Grund auch auf Zivil- und Wirtschaftsprozesse eingegangen. Ich möchte mich hier jedoch auf Strafprozesse beschränken, genauer: auf Morde und sexuelle Gewalt.
Die heute übliche Psychologisierung des Täters geht leider immer auf Kosten der Opfer. Aufgekommen ist sie in den 1960er Jahren, genau gesagt 1967 ab dem Prozess gegen den Jungen-Mörder Jürgen Bartsch. Die Vorgehensweise, nach den Prägungen des Täters zu fragen, war damals durchaus ein Fortschritt. Denn sie löste die Kopf-Ab-Mentalität der Nach-Nazizeit ab und
machte klar: Auch Mörder sind Menschen. Inzwischen aber ist das Verständnis für die Täter längst in eine Ignoranz der Opfer gekippt. Es ist zur Waffe gegen Opfer geworden und zum Freifahrtschein für Täter. Die Argumentation ist dabei eine fast immer gleiche: schwere Kindheit, kaltherzige Mutter etc. Von den oft auch gewalttätigen Vätern der Täter ist übrigens selten die Rede.Der 2003 verstorbene Gerichtsberichterstatter Gerhard Mauz war in der Pro-Täter-Berichterstattung über Jahrzehnte führend. Seine Nachfolgerin beim Spiegel,
Gisela Friedrichsen, setzte die Tradition ungebrochen fort. Obwohl in Fachkreisen das Unbehagen über diese Art von einseitiger Berichterstattung schon lange groß ist.
So hieß es in der Neuen Juristischen Wochenschrift über die studierte Germanistin bereits 2005: „Schulmeisterlich verteilt sie Zeugnisse, bewertet, lobt, verdammt, auf der Grundlage ihrer subjektiven Maßstäbe. Dabei ergreift sie nicht nur Partei für eine Seite, sondern berichtet einseitig, gibt den Argumenten der angegriffenen Seiten meist keinen Raum.“
Schon lange scheinen viele Richter so verunsichert in unserer Mediengesellschaft, dass sie in heiklen Fällen die Verantwortung mehr und mehr an die Gutachter abschieben. Auf deren – keineswegs rein objektiven, sondern zwangsläufig ebenfalls subjektiven und manchmal sogar interessengeleiteten – Vorhaltungen basieren sie ihre Urteile. Der Bundesgerichtshof fördert diese Entmündigung der Richter auch noch. Die Nichthinzuziehung eines „Sachverständigen“ – der oft kaum sachverständiger ist als ein Richter – kann dem Gericht beim Berufungsverfahren als Fehler angelastet werden. Kommentar Müller-Luckmann: „Die Richter werden zur Feigheit erzogen.“Kurzum: Massig Software und wenig Hardware. Genau da rein stößt die Litigation-PR. Doch was ist neu an ihr? Die Dimension! Waren es früher „nur“ Anwälte und gewisse Journalisten, die ein Interesse an der parteiischen Darstellung eines Prozesses hatten, so kommen heute die „Medienanwälte“ bzw. „Kommunikationsexperten“ hinzu, plus schwer greifbare AktivistInnen in der weiten Welt des Internet.So diffamierte Kachelmanns „Medienanwalt“ das mutmaßliche Opfer schon Monate vor dem Urteil als „die Erfinderin des Vergewaltigungsvorwurfes“. Ungestraft. Gleichzeitig versuchte er, den Medien mit einer Flut von einstweiligen Verfügungen und Abmahnungen einen Maulkorb umzulegen. Dabei ging es keineswegs nur um den legitimen Persönlichkeitsrechtsschutz, sondern so manches Mal ganz einfach um das Verhindern der Berichterstattung durchaus relevanter Fakten – wie zum Beispiel die DNA-Spuren an dem fraglichen Messer. Die erste Instanz des Kölner Landgerichts gab, zur Fassungslosigkeit der BerichterstatterInnen, quasi allen Verbotsanträgen des Kölner „Medienanwaltes“ statt. Die zweite Instanz aber gab im November 2011 in der Messer-Frage bild.de recht. Bleibt abzuwarten, welche Folgen diese Entscheidung für zukünftige Berichterstattungen über Prozesse haben wird.
Und dann das Internet. Im Fall Kachelmann gab es da eine Bloggerin in der Schweiz, die rechtlich unbelangbar war und diese Freiheit nutzte, enthemmt Partei zu ergreifen für ihren armen Kachelmann und dessen zahlreiche (Ex)Freundinnen mit Kübeln von Dreck und Verleumdungen überschüttete. Das alles unterfüttert mit wahrlich beeindruckenden Detailkenntnissen zum Fall.
Von wem? Verschärfend hinzu kommt die Rolle gewisser Journalisten und Journalistinnen in diesem Fall.
Die führende Meinungsmacherin im Fall Kachelmann war Sabine Rückert von der Zeit. Die bekannte Gerichtsberichterstatterin veröffentlichte bereits Monate vor Beginn des Prozesses, nämlich im Juni 2010, gleich ein ganzes Dossier über den „Justizirrtum“ aus Verteidiger-Perspektive – sie beschied: Kachelmann sei unschuldig und ein Opfer seiner rachsüchtigen Ex-Freundin. Das alles gespickt, drei Monate vor Beginn des Prozesses, mit erstaunlichen Details. Von wem?
Dieselbe Journalistin mischte wenig später bei dem Wechsel des Verteidigers von Kachelmann mit. Sie empfahl dessen erstem Anwalt, Reinhard Birkenstock, dringlich die Hinzuziehung eines zweiten, Johann Schwenn. Mit ihm hatte Rückert bereits einmal einen „Justizirrtum“ aufgedeckt, in einem Missbrauchsfall, und gleich ein ganzes Buch darüber geschrieben.
Schwenn löste Birkenstock dann mitten im laufenden Verfahren überraschend ab und erwies sich als Meister der Stimmungsmache. Mit besserwisserischen, arroganten Auftritten und medial massiv unterstützt von seiner bewährten Gefährtin Rückert, schüchterte der Hamburger „Staranwalt“ nicht nur das Mannheimer Provinzgericht ein, sondern auch so manchen autoritätshörigen Journalisten. Etliche schwenkten, nach anfänglicher Kachelmann-Kritik, nun um auf den Kurs des machtbewusst auftretenden Verteidigers und der ihm gewogenen Hamburger Leitmedien.
Ein wahrhaft grotesker Höhepunkt der Schwenn-Strategie in Sachen Stimmungsmache war, dass er mich von der Pressebank in den Zeugenstand beordern ließ. Wohl wissend, dass ich a) nichts zu sagen hatte, b) als Journalistin die Aussage verweigern würde. Das ganze Manöver diente ausschließlich dem Ziel, mich als Kachelmann-kritische Berichterstatterin unglaubwürdig zu machen und in den Verdacht der Parteilichkeit pro mutmaßlichem Opfer zu rücken. Mit Erfolg. War ich in der ersten Hälfte des Prozesses noch eine Journalistin unter vielen, die das Geschehen verfolgt und sich in den Pausen mit den KollegInnen darüber austauschte, so war ich in der zweiten Hälfte eine Gebrandmarkte. Kaum einer bzw. eine mochte noch mit mir reden bzw. in der Mittagspause mit mir gesehen werden.
Es war nicht ohne Komik – und eine sehr, sehr aufschlussreiche Erfahrung.Der Fall Kachelmann hat mich gelehrt, dass die Gerichte in Deutschland und auch die Medien weit davon entfernt sind, der konzertierten und hemmungslosen Wucht der Litigation-PR gewachsen zu sein – ja, manche Medien sind gar selber Teil der Litigation-PR. Im Ernstfall genügt es ja, erfolgreich Zweifel zu säen in Bezug auf die Schuld des Angeklagten – Freispruch.
Auch wenn es im Fall Kachelmann nur ein Freispruch dritter Klasse war. Denn noch in seiner Urteilsbegründung betonte der Richter, der Verdacht, dass Kachelmann seine damalige Lebensgefährtin vergewaltigt und mit dem Tode bedroht habe, habe sich „nicht verflüchtigt“, das Gericht habe weiterhin „Zweifel an seiner Schuld“.
Genau das war meine Position in diesem ganzen Verfahren: der Zweifel. Als Gegengewicht zu der überwältigenden, selbstgerechten Pro-Kachelmann-Berichterstattung hatte ich die „Opferperspektive“ eingenommen. Was nicht etwa hieß, dass ich – so wie Rückert & Co. – nun auch meinerseits behauptet hätte, die Wahrheit zu kennen und im Gegenzug geschrieben hätte: Er ist schuldig. Nein, ich hatte mir lediglich erlaubt, darauf aufmerksam zu machen, dass es sein könnte, dass das mutmaßliche Opfer die Wahrheit sagt. Doch das war schon zu viel.
Denn es ging ja im Fall Kachelmann über die Interessen der direkt Betroffenen hinaus um etwas, was sehr viele Frauen und Männer betrifft: um die sexuelle Gewalt innerhalb einer Beziehung. Es ging um einen Mann, der im Verdacht stand, seine Freundin vergewaltigt zu haben. Und die Statistiken belegen: Bei jeder zweiten Vergewaltigung ist der eigene Freund oder Mann bzw. Ex-Mann der Täter. Entsprechend emotionalisiert und polarisiert war die öffentliche Stimmung. Von den geschätzten 90.000 Vergewaltigungen Jahr für Jahr allein in Deutschland sind laut internationaler Statistiken maximal drei Prozent Falschanschuldigungen. Doch nur ein Prozent wird letztendlich gesühnt. Und was ist mit den restlichen 86.800 mutmaßlichen Opfern? Die haben eben keine Litigation-PR-Berater.
Alice Schwarzer
http://www.aliceschwarzer.de/publikatio ... nda-recht/