Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Hier wird das Problem des zunehmend mangelhaften Schutzes der Bürger vor Gewalttaten und dessen verfassungsrechtliche Relevanz erörtert. (Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 GG)

Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Fr 29. Jan 2010, 18:29

Diese HP hier muss man sich im Zusammenhang mit den grundsätzlichen Rechtsfragen, die der heutige Umgang mit dem Notwehrrecht angeht, unbedingt einmal angesehen haben. Ich finde das brilliant:

http://www.ulrich.perwass.de/Kommentare/Wuerdemord_oder_Notwehr.htm

Auszug:

Professor Merkel schreibt:

Schon Kant hat es gewusst: Notwehr ist das »heiligste Recht«



Die Verweigerung der Nothilfe, die der Notwehr gleichgestellt ist, durch unseren Staat ist damit nicht nur unmoralisch und ethisch verwerflich, sie beschädigt die Würde des Opfers auf das Tiefste, da sie es zum Objekt staatlicher Vorsorge degradiert! Das vergessen die oben angesprochenen Kommentatoren, wenn sie ihrer pubertären Gewaltphantasie freien Lauf lassen und sich standhaft weigern erwachsen zu werden, um die Realitäten dieser Welt erkennen zu können.
Der Stuttgarter OB Rommel:

Ich trete überall, wo das notwendig ist, der Meinung entgegen, der Umstand, dass die Diktatur zu allem fähig war, berechtige dazu, die Demokratie zu allem unfähig zu machen.
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon Uel » So 31. Jan 2010, 17:30

...genial, der Gedanke,

Notwehr und Nothilfe gleich zu stellen, ... man sollte mal über das Strafmaß der unterlassenen Nothilfe von Verantwortlichen in Behörden nachdenken ... z. B. Zeugenschutz, leichtfertige Datenweitergabe und damit Zeugen- oder opfergefährdung ...
Liebe Grüße
von Uel

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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » So 31. Jan 2010, 22:57

Uel hat geschrieben:...genial, der Gedanke,

Notwehr und Nothilfe gleich zu stellen, ... man sollte mal über das Strafmaß der unterlassenen Nothilfe von Verantwortlichen in Behörden nachdenken ... z. B. Zeugenschutz, leichtfertige Datenweitergabe und damit Zeugen- oder opfergefährdung ...


Nach dem Gesetz gibt es auch keinen Unterschied zwischen Notwehr und Nothilfe:

§ 32 Notwehr

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.


Quelle: dejure.org

Was in diesem Zusammenhang aber wirklich entscheidend ist, steht hier:

§ 13 Begehen durch Unterlassen

(1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.

(2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.


Ein Normalbürger und Adressat des Gesetzes, der eine besondere Rechtspflicht übernommen hatte, Schaden von anderen Menschen abzuwenden, wird also nicht wegen unterlassener Hilfeleistung (Höchststrafe 1 Jahr Gefängnis), sondern wie ein Handlungstäter (Höchststrafe lebenslänglich) bestraft, wenn er den Schaden pflichtwidrig eintreten lässt.

Die stärkste Form einer solchen Rechtspflicht ist für mich das staatliche Gewaltmonopol, weil den zu schützenden Menschen dadurch auch noch verboten wird, sich umfassend selbst zu schützen. Dass wegen Nachlässigkeiten bei der Wahrnehmung dieser allerhöchsten Staatspflicht schon Menschen umgekommen sind, habe ich öfters gehört und gelesen. Dass deswegen ein Staatsdiener lebenslänglich bekommen hat, noch nicht.
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Di 2. Feb 2010, 11:04

Noch etwas zu den Auswirkungen des gegenwärtig fragwürdigen Umgangs der Gerichte mit dem Notwehrrecht:

Sehr wahrscheinlich wäre der in Solln getötete D. Brunner im Falle einer erfolgreichen Selbstverteidigung ebenso wie der Informatikstudent im Münchener Fall ein paar Jahre ins Gefängnis gewandert, wegen minderschweren Totschlags.

Er war übrigens gelernter Jurist, auch wenn er den Betrieb seiner Familie geleitet und nicht als Anwalt gearbeitet hat. Solche Fälle wie den mit dem Informatikstudenten hat er sich todsicher genau angesehen, schon aus fachlichem Interesse.

Sein Mörder war - wie der Schläger im Fall des Informatikstudenten - auch körperlich etwas schmächtiger als er. Er wusste mithin ganz genau, dass er vor Gericht keine Chance haben würde, wenn er die notwendigen harten und für den Aggressor lebensgefährlichen Verteidigungsmittel anwenden würde und seiner Familie sowie seinen Mitarbeitern durch einen mehrjährigen Knastaufenthalt des Chefs grosse Probleme bereiten würde.

Richter Götzl war an diesem Tatort geistig also anwesend. Als Helfershelfer auf Seiten des Aggressors.
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » So 7. Feb 2010, 14:10

Wer hätte das gedacht, die armen Jungs haben sich nur gewehrt:



Zum Glück bestätigen alle Zeugen ausser dem S-Bahn - Fahrer, dass die Aggression von den Schlägern ausging. Und der Fahrer macht sich vermutlich Sorgen, dass er selbst wegen unterlassener Hilfeleistung drankommen könnte.
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"No Go Areas"

Beitragvon Santo » Do 22. Apr 2010, 13:58

AlexRE hat geschrieben:
Demokrat hat geschrieben:Aber schon zu meiner Kindheit in den siebziger Jahren gab es in der kleinen spießig bürgerlichen Universitätsstadt Göttingen absolute "No go Areas". Z.B. das Eisenbahnerviertel. Wäre ich als Kind dort hingegangen, wäre die Lippe dick gewesen. Zu 100%, alle wussten das und dort ging man nicht hin. Die Zone hat sich nur verlagert und heute heißt das Problemviertel "Grone Süd"; aber eigentlich hat sich in vierzig Jahren nix geändert, nur gab es ein gab wirtschaftlich erfolgreiche Jahre in den Achzigern dazwischen.


Ganz sicher, dass sich gar nichts geändert hat?

Nach den mir bekannten Statistiken hat sich zwar die Zahl der Straftaten seit damals kaum erhöht, im Bereich Gewaltkriminalität aber die Qualität verschärft. Damals wärst Du fast immer mit "einer dicken Lippe" nach Hause gekommen, heute müssten Dich mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit im Vergleich zu damals Deine Eltern im Krankenhaus besuchen.


Machen wir uns doch nichts vor, oder es wäre ein Besuch auf dem Friedhof fällig...

Klar gab es immer "no go arias" unter vielfältigen anderen Bezeichnungen, doch ist deren Größe, Ausprägung und Qualität heute eine ganz andere. Nicht nur die von Alex angeführte Qualitätsänderung der Straftaten als solche, sondern des Gesamtphänomens ist feststellbar. In früheren Tagen gab es so etwas wie Fairness, selbst in Auseinandersetzungen und kaum jemals, bestenfalls unter Drogeneinfluss, wäre jemand auf die Idee gekommen selbst Wehrlose noch zu traktieren. Darüber hinaus haben in den früher einfach nur asozialen Vierteln heute kriminelle Banden mit relativ straffer Organisation (zumindest über die Angsteinflößung selbst bei eigenen Mitgliedern) Herrschaft über ganze Stadtviertel eingenommen und dem Staat eindeutig seinen Rang als Gewaltmonopol, nicht nur streitig gemacht, sondern definitiv abgelaufen.
Die Zeichen stehen eindeutig auf Sturm. Und die das Notwehrrecht zum Teil nicht nur restriktiv auslegenden, sondern fast aushöhlenden Justizvertreter tun alles ihnen mögliche um die Normalbürger immer mehr in die Selbstjustiz zu zwingen...

Ein Phänomen, dass sich auch seit Jahrzehnten(!) immer deutlicher in anderen Rechtsbereichen erkennen lässt. Beispielsweise hat ein Vermieter in Deutschland heute kaum noch Rechte in seinem eigenen Haus. Er muss bei Sachbeschädigungen quasi tatenlos, ohne rechtlich nutzbringende Eingriffsmöglichkeit daneben stehen und dabei zusehen, wie sein Eigentum zerlegt wird. Eine meines Erachtens absolut klare Entwertung des Eigentumsschutzes des Grundgesetzes, der damit zur Farce geworden ist. Die Staatsvertreter, ob aus Politik oder Justiz kommen in keinster Weise mehr ihrer Verpflichtung nach, derartige Rechtsverletzungen zu unterbinden und machen sich damit zu Handlangern asozialer Krimineller. Es scheint angebracht, dass auch Straftaten von Politikern oder Justizvertretern vermehrt ernsthaft geprüft und von Bürgern zur Anzeige gebracht werden, denn auch für Justizvertreter oder Politiker existiert kein rechtsfreier Raum. Die Bürger müssen einfach mehr Mut aufbringen. Nicht umsonst gibt es Rechtsinstitute wie "mittelbare Täterschaft", "Rechtsbeugung", die im Einzelfall natürlich von Facheuten (Rechtsanwälten) geprüft und begründet werden müssten. etc. ...
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Re: "No Go Areas"

Beitragvon AlexRE » Do 22. Apr 2010, 14:45

Vorab zur Erläuterung: Der oben zitierte Teilnehmer "Demokrat" ist bislang nur auf meinem privaten Forum registriert, die Beiträge hier sind vom dortigen Parallelthread herüberkopiert.

Santo hat geschrieben:Es scheint angebracht, dass auch Straftaten von Politikern oder Justizvertretern vermehrt ernsthaft geprüft und von Bürgern zur Anzeige gebracht werden, denn auch für Justizvertreter oder Politiker existiert kein rechtsfreier Raum. Die Bürger müssen einfach mehr Mut aufbringen. Nicht umsonst gibt es Rechtsinstitute wie "mittelbare Täterschaft", "Rechtsbeugung", die im Einzelfall natürlich von Facheuten (Rechtsanwälten) geprüft und begründet werden müssten. etc. ...


Die gegenwärtigen Machtverhältnisse erlauben kein wirksames Vorgehen noch so mutiger Bürger und Fachleute gegen die weitere Erosion des Rechtsstaatsprinzips. Dazu muss sich erst im politischen Raum etwas grundsätzlich ändern, der Volkssouverän muss seine Souveränitätsrechte einfordern. Rechte, die man nicht geltend macht, werden einem vorenthalten. Die Geltendmachung der Hausherrenrechte des Volkssouveräns ist schliesslich der Daseinszweck von Grundgesetz Aktiv.
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Re: "No Go Areas"

Beitragvon Santo » Do 22. Apr 2010, 15:02

AlexRE hat geschrieben:Vorab zur Erläuterung: Der oben zitierte Teilnehmer "Demokrat" ist bislang nur auf meinem privaten Forum registriert, die Beiträge hier sind vom dortigen Parallelthread herüberkopiert.

Santo hat geschrieben:Es scheint angebracht, dass auch Straftaten von Politikern oder Justizvertretern vermehrt ernsthaft geprüft und von Bürgern zur Anzeige gebracht werden, denn auch für Justizvertreter oder Politiker existiert kein rechtsfreier Raum. Die Bürger müssen einfach mehr Mut aufbringen. Nicht umsonst gibt es Rechtsinstitute wie "mittelbare Täterschaft", "Rechtsbeugung", die im Einzelfall natürlich von Facheuten (Rechtsanwälten) geprüft und begründet werden müssten. etc. ...


Die gegenwärtigen Machtverhältnisse erlauben kein wirksames Vorgehen noch so mutiger Bürger und Fachleute gegen die weitere Erosion des Rechtsstaatsprinzips. Dazu muss sich erst im politischen Raum etwas grundsätzlich ändern, der Volkssouverän muss seine Souveränitätsrechte einfordern. Rechte, die man nicht geltend macht, werden einem vorenthalten. Die Geltendmachung der Hausherrenrechte des Volkssouveräns ist schliesslich der Daseinszweck von Grundgesetz Aktiv.


Das ist korrekt, wie ich durch meine Bemerkung, dass sich Anklagen und vor allem Verurteilungen kaum werden bewirken lassen, schon durchblicken ließ. Aber die dadurch erreichbare öffentlich wirksame und berechtigte Diskreditierung der derzeitigen Ausführung des Systems und vor allem seiner Vertreter ist eine psychologisch unabdingbare Voraussetzung dafür, dass der Souverän (das Volk) seine Rechte überhaupt jemals wieder erlangen kann...
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Mo 6. Sep 2010, 11:36

Der Haupttäter im Prozess um den Tod von Dominik Brunner (siehe S. 1 dieses threads) ist nach Jugendstrafrecht wegen Mordes verurteilt worden:

Der 19 Jahre alte Haupttäter Markus S. wurde vom Landgericht München I zu einer Haftstrafe wegen Mordes an Dominik Brunner verurteilt. Markus S. muss für neun Jahre und zehn Monate ins Gefängnis. Der jüngere Sebastian L. wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu neun Jahren Jugendhaft verurteilt.


Quelle: focus.de

Mich würde in diesem Fall insbesondere die Begründung dafür interessieren, wieso bei dem Täter im Heranwachsendenalter von 18 - 20 Jahren angeblich eine Entwicklungsverzögerung vorlag. Das wird regelmäßig anhand der jeweiligen Einzelfälle behauptet, nach dem Gesetz ist das aber m. E. nicht so selbstverständlich:

http://www.jugendstrafrecht.de/heranwachsende.htm
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Re: Bürger bald völlig schutzlos? - Weg in die Selbstjustiz?

Beitragvon AlexRE » Mi 15. Dez 2010, 13:07

Ein neuer Fall, in dem einem Verbrechensopfer möglicherweise ein Notwehrexzess angedichtet werden könnte:

Bei einem Raubüberfall auf einem Privatgrundstück in Sittensen (Niedersachsen) ist ein 16-jähriger mutmaßlicher Täter vom Hausbesitzer getötet worden. Die Frage, ob sich der 77-jährige Rentner bei dem Vorfall „in den Grenzen der Notwehr bewegte oder nicht“, sei Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens, sagte Kai-Thomas Breas von der Staatsanwaltschaft Stade.


Quelle: welt.de

Dass der Rentner wohlhabend ist und sich teure Anwälte leisten kann, wird ihm vermutlich nicht viel nützen. Wir sind hier nämlich nicht in den USA, wo Geschworene das letzte Wort haben und Teams von teuren top - Anwälten, Psychologen usw. auf Seiten des Angeklagen fast alles erreichen können.

Wenn hier in Deutschland wirklich - wie ich vermute und des öfteren hier geschrieben habe - die Tendenz besteht, der Gefahr der Eskalation der intensiver und gefährlicher werdenden Gewalt in der Öffentlichkeit auf Kosten des Notwehrrechts der Angegriffenen zu begegnen, kann kein Anwalt und keine Spezialistenmannschaft der Welt den Rentner vor einer Verurteilung bewahren. Gegen den festen rechtspolitischen Willen der deutschen Justiz kann niemand irgendeine Art von Recht durchsetzen - ausgenommen der europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der kann die Bundesrepublik wie alle Unterzeichnerstaaten der EMRK für glattes Justizunrecht zu Schadensersatz verurteilen.

Ich persönlich glaube, dass der Münchener Informatikstudent in Straßburg gewonnen hätte, wenn er stur geblieben wäre und sich in der zweiten Verhandlung vor dem Landgericht nach Zurückverweisung des Falles durch den BGH nicht auf das "Eingeständnis" der Notwehrüberschreitung eingelassen hätte, um einen Strafnachlass zu erreichen, der die sofortige Entlassung nach der Verhandlung ermöglichte.

Damit will ich ihm keinen Vorwurf machen, ich habe großes Verständnis für diese Entscheidung. Sobald aber der erste Betroffene nicht klein beigibt und alle Mittel ausschöpft, wird es unangenehm für unsere Justiz. Der Rentner in diesem Fall könnte vielleicht so ein Typ sein.
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