Im April 2010 brachte Report München einen Beitrag mit dem Titel "Risiko Zivilcourage - wie Helfer zu Tätern werden". Leider kann ich diesen Beitrag in der ARD - Medathek nicht finden. Ich habe aber auf einem Forum ein Protokoll des Inhalts gefunden. Dort haben sich weitere Juraprofessoren sehr kritisch zu der gegenwärtigen Rechtsprechung in Sachen Notwehr / Nothilfe geäußert:
Risiko Zivilcourage
Sie sind dazwischen gegangen, als ein Mitbürger angegriffen wurde; sie haben Mut gezeigt. Für diesen Einsatz landeten sie vor Gericht und bekamen einen Strafbefehl. report MÜNCHEN über den fragwürdigen Umgang von Staat und Justiz mit Zivilcourage.
Nachgestellte Szene: Eine Busfahrt von Landshut nach Ergolding. Ein anscheinend betrunkener Fahrgast attackiert die anderen Insassen. Viele Fahrgäste kriegen Angst, verlassen den Bus. Nur einer kommt dem Busfahrer zur Hilfe, Christian Walter. Dabei verletzt er sich schwer an der Hand, kann fortan seinen Beruf nicht mehr ausüben. Christian Walter verliert seine Lebensgrundlage, seinen Job, wohnt jetzt wieder bei seinen Eltern. Sechs Jahre lang kämpft er um eine Rente, noch immer braucht er dringend notwendige Operationen.
report-Video: Risiko Zivilcourage: Wie Helfer zu Tätern werden Sie sind dazwischen gegangen, als ein Mitbürger angegriffen wurde; sie haben Mut gezeigt. Für diesen Einsatz landeten sie vor Gericht und bekamen einen Strafbefehl. report MÜNCHEN über den fragwürdigen Umgang von Staat und Justiz mit Zivilcourage.
Christian Walter:
"Man kann keine sozialen Aktivitäten mehr betreiben, man hat immer das schlechte Gefühl, das man das Geld der Eltern ausgibt. Das ist sehr entwürdigend. Menschenunwürdig, eigentlich."
Rückblende. September 2009: Der Fall Dominik Brunner entsetzt ganz Deutschland. Der Münchner hatte vier Kinder beschützt und das mit seinem Leben bezahlt.
Was folgt, ist ein Aufschrei des Entsetzens.
Uli Hoeneß, am "20.12.2009":
"Lassen Sie uns von unserem Recht auf Zivilcourage aktiv Gebrauch machen. Mischen wir uns ein, wenn es nötig ist und weisen wir die Gewalt in ihre Schranken!"
Horst Seehofer, am "14.09.2009":
"Wir versuchen alles Menschenmögliche zu tun, dass Leute, die Zivilcourage in unserem Lande einbringen, auch stärker geschützt werden."
Alles nur Lippenbekenntnisse?
Prof. Reinhard Böttcher, Vorsitzender Weißer Ring:
"Man kann nicht einerseits fordern, dass die Bürger Zivilcourage zeigen, und sich in Gefahrenlagen für den Mitbürger engagieren und ihn dann hängen lassen, wenn er dabei angegriffen wird, und Verletzungen erleidet. Das ist schmählich."
Szene nachgestellt: Ein anderes Beispiel. Eine Schule in der Nähe von Ahlen. Ein Schüler wird brutal von mehreren Jugendlichen verprügelt. Selbst als der Junge schon am Boden liegt, treten sie weiter auf ihn ein. Walter Petker sitzt im Auto, wartet auf seine Kinder. Für ihn ist schnell klar: Hier muss er einschreiten und dem wehrlosen Kind helfen.
Walter Petker:
"Ich bin direkt auf das liegende Kind zu, das immer noch am Boden lag und hab ihm gesagt, dass es jetzt Schutz hat, dass ihm nix passieren kann, dass er, wenn es ihm gesundheitlich möglich ist, aufstehen kann, wenn es ihm möglich ist."
Der Schlimmste der Schläger will sich aus dem Staub machen. Der Vater stellt die Angreifer zur Rede, die sollen sich beim Opfer entschuldigen.
Walter Petker:
"Da hab ich nur hinterhergerufen, weil ich die Situation wirklich feige fand, ob er jetzt ein feiger Pisser ist, oder ob er noch mal zurückkommt und sich wenigstens bei seinem Opfer entschuldigt."
Seine Zivilcourage wird vom Staatsanwalt beantwortet. Mit einem Strafbefehl wegen Beleidigung: 200 Euro soll der Nothelfer zahlen.
Walter Petker:
"Ich war mehr als perplex, ich konnte es erst gar nicht zuordnen, und nachdem ich es geöffnet hatte, hieß es plötzlich: Wegen Beleidigung. Das zieht einem die Beine weg. Das musste ich erst mal verdauen."
Erst nach massiven öffentlichen Protesten, aufgeregten Leserbriefen in Zeitung und Internet stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.
Prof. Werner Beulke, Lehrstuhl für Strafrecht, Uni Passau:
"Eins ist ganz klar: Bei dieser Sache mit dieser Vorgeschichte hätte der Staatsanwalt ganz unschwer einstellen können. Er hätte einstellen können ohne jede Sanktionierung."
Wie möglicherweise auch im nächsten Fall.
Szene nachgestellt: Tatort U-Bahn Station in München, Herbst 2009. Ein Betrunkener bedrängt eine Frau. Als die sich wehrt, kommt Passant Uwe W. zur Hilfe.
Uwe Walther:
"Es war zehn vor eins. Und dann auf einmal explodiert da vorn die Lage, zieht der eine aus und haut die Flasche ihr drüber."
Die Frau bricht schwer verletzt zusammen. Uwe W. ist sofort zur Stelle und hilft dem Opfer. Der Täter will sich aus dem Staub machen. Uwe W. will ihm die Flasche wegnehmen, bevor der Betrunkene weitere Menschen attackieren kann. Es kommt zum Handgemenge. Ein Schubser gibt den anderen, der Täter fällt auf die Gleise und bricht sich den Arm.
Uwe W. wollte helfen, doch das Gericht sieht das ganz anders. Es verurteilt den Helfer. Zu 600 Euro Strafe, wegen gefährlicher Körperverletzung. Wir konfrontieren das Gericht mit der Kritik an dem umstrittenen Urteil. Erklärungsversuche.
Ingrid Kaps, Pressesprecherin Amtsgericht München:
"Ich hab großes Verständnis dafür, dass es eine ganz schwierige Situation ist für jeden Einzelnen, der in eine solche Lage gerät. Aber ich denke, man muss sich immer vor Augen führen, dass Gewalt - ganz gleich, von wem - immer einer Rechtfertigung bedarf. Und das, glaub ich, kann man sich auch für sich selber merken: "Ist jetzt das Maß an Gewalt, das ich ausübe, tatsächlich jetzt noch der Situation angemessen, oder reagiere ich über?"
Aber kann der Helfer in solch einer Stresssituation überhaupt einschätzen, wie viel Gegenwehr gesetzlich erlaubt ist?
Prof. Werner Beulke, Lehrstuhl für Strafrecht, Uni Passau:
"Spontan kann man eben nicht so alles abwägen. Das ist die große Schwierigkeit in diesen Fallgruppen. Und die Richter sind dann zu juristisch. Das liegt an ihrer Ausbildung, an ihrer Mentalität, was sie auch sonst immer machen. Sie sind dann nicht lebensnah genug. Das muss man dann leider ganz ehrlich sagen."
Doch welche Auswirkungen haben solche Streitfälle auf die Bereitschaft auch künftig noch Zivilcourage zu zeigen?
Uni Göttingen. Eine Gruppe um Prof. Schulz-Hardt hat das Phänomen Zivilcourage erstmalig realitätsnah untersucht. Ein Feldversuch mit versteckter Kamera. Das Ergebnis: Erschreckend. Nur fünf Prozent der Untersuchten sind überhaupt bereit, helfend einzugreifen. Das belegen die Filmaufnahmen. Doch was, wenn genau diese wenigen Helfenden dann auch noch verurteilt werden?
Prof. Stefan Schulz-Hardt, Soziologe Uni Göttingen:
"Diese ganzen Urteile mögen juristisch alle völlig einwandfrei sein, aber wir haben ohnehin nur fünf Prozent von Menschen, die jedenfalls in unseren Experimenten, die sich zivilcouragiert verhalten, das heißt, wir haben in der Gesellschaft ohnehin nur relativ wenige Menschen, die Zivilcourage zeigen. Die könnten natürlich auch noch abgeschreckt werden, und dann sind wir vielleicht irgendwann mal bei Null."
Genau dieses Fazit hat auch Christian Walter für sich gezogen.
Christian Walter:
"Wenn man ehrlich ist, kann man nicht sagen, dass sich Zivilcourage lohnt. Es ist auf alle Fälle gesünder und für das weitere Leben besser, wenn man wegsieht."
Doch wegschauen, wenn einer Hilfe braucht: Das wäre eine fatale Entscheidung, die niemals Schule machen darf.