Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Hier wird das Problem des zunehmend mangelhaften Schutzes der Bürger vor Gewalttaten und dessen verfassungsrechtliche Relevanz erörtert. (Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 GG)

Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon maxikatze » Di 22. Jun 2021, 20:01

In Frankreich steht Valérie Bacot vor Gericht. Ihr wird vorgeworfen, ihren Stiefvater und späteren Ehemann getötet zu haben.
Der Mann hatte sie seit ihrem zwölften Lebensjahr immer wieder vergewaltigt und misshandelt.
Der Französin droht eine lebenslange Haftstrafe; die Verteidigung und Hunderttausende Franzosen fordern ihren Freispruch.

Bis jetzt haben weit über eine halbe Million Menschen eine Online-Petition unterschrieben. "Freiheit für Valérie Bacot!"
"Freiheit für Valérie Bacot!"
https://web.de/magazine/panorama/toetet ... t-35926600
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Di 22. Jun 2021, 21:58

maxikatze hat geschrieben:
In Frankreich steht Valérie Bacot vor Gericht. Ihr wird vorgeworfen, ihren Stiefvater und späteren Ehemann getötet zu haben.
Der Mann hatte sie seit ihrem zwölften Lebensjahr immer wieder vergewaltigt und misshandelt.
Der Französin droht eine lebenslange Haftstrafe; die Verteidigung und Hunderttausende Franzosen fordern ihren Freispruch.

Bis jetzt haben weit über eine halbe Million Menschen eine Online-Petition unterschrieben. "Freiheit für Valérie Bacot!"
"Freiheit für Valérie Bacot!"
https://web.de/magazine/panorama/toetet ... t-35926600


Ein Freispruch ist in diesem Fall etwas schwierig, aber möglich. In einem positivistischen Rechtssystem (wie in Deutschland und Frankreich nur am Gesetz und nicht an dem Rechtsempfinden von Geschworenen orientiert wie in den USA) muss man schon tricksen, um in solchen Extremfällen unerträgliche Urteile zu vermeiden. Das machen sie aber auch, wie man hier sieht. Die Frau wäre ja nicht auf freiem Fuß, wenn in der Justiz ernsthaft eine lebenslängliche Freiheitsstrafe erwogen würde. Bei uns tricksen sie in solchen Extremfällen übrigens auch zu Gunsten der Angeklagen, mal "Haustyrannendilemma" googeln.

Ich habe die Petition unterzeichnet.
Der Stuttgarter OB Rommel:

Ich trete überall, wo das notwendig ist, der Meinung entgegen, der Umstand, dass die Diktatur zu allem fähig war, berechtige dazu, die Demokratie zu allem unfähig zu machen.
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon maxikatze » Di 29. Jun 2021, 11:35

Nun wurde Bacot zu einer Haftstrafe verurteil - ins Gefängnis muss die Frau aber nicht mehr.

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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Di 29. Jun 2021, 12:18

maxikatze hat geschrieben:
Nun wurde Bacot zu einer Haftstrafe verurteil - ins Gefängnis muss die Frau aber nicht mehr.

https://web.de/magazine/panorama/valeri ... t-35946754


In Deutschland hat es in vergleichbaren Fällen schon Freisprüche gegeben, insbesondere dann, wenn wegen der starren Strafandrohung unseres Mord - Paragraphen, der keine minderschweren Fälle kennt, lebenslänglich drohte.

Das haben sie hier u. a. mit Konstruktionen wie der eines dauerhaften Angriffs des Aggressors, selbst wenn er schläft, umschifft. Also war kein Kompromiss wie in Frankreich möglich, nur Freispruch mit Hilfe einer rechtstechnisch wackeligen Notwehr - Konstruktion.
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Mi 30. Jun 2021, 17:31

Ich bin durch einen falschen Klick noch einmal auf der ersten Seite dieses threads gelandet und habe da eine Antwort von mir auf einen Beitrag Uels gesehen, die ich nach den zwischenzeitlichen teilweise korrigieren muss:

AlexRE hat geschrieben:Vom privaten Forum herüberkopiert:

Uel hat geschrieben:

... unerklärlich, das Ganze mit solchen Richtern, wenn man mit normalen Begründungen nach der Ursache sucht. Wenn man sich davon aber frei macht, fallen mir spontan 2 Beweggründe ein:

1. Der Richter, der einfach Angst hat. Er glaubt sich, Familie und Verwandtschaft nicht mehr sicher, wenn er den Täter seinen Taten entsprechend gerecht verurteilen würde. Aber er ist dann auch zu unaufrichtig, um sich selbst als befangen zu erklären. Und es gibt sicherlich keine Organisationsform, die sich dieser Fälle anonymisierend annehmen würde.

2. wir gehen bei Richtern davon aus, dass sie an Gerechtigkeit und guter Ausführung ihres Jobs interessiert sind. Was aber, wenn da jemand ist, der Freude an der Böswilligkeit hat wie Sadisten am Quälen von Menschen. Was wäre mit einem Richter, der sich nach jedem Urteil selbst feiert, wenn er folgenlos für sich es geschafft hat, schreiendes Unrecht zu sprechen. Er hat den Staat, das Rechtssystem, die Bürger und die Opfer verhöhnt und es bleibt ohne Folgen, besser noch, er bekommt monatlich bis an sein Lebensende immer ausreichend viel Geld überwiesen. Wenn das nicht Allmachtsphantasien von kranken Persönlichkeiten befeuern kann.


Man kann diesen Richtern natürlich nur vor den Kopf schauen und nicht hinein, ich halte dennoch beide Erklärungsansätze für falsch.

1. Wenn es oft vorkäme, dass Richter von Gewaltkriminellen bedroht werden, würde man aus den Medien davon erfahren. Selbst wenn das so wäre, würde das m. M. n. nicht zu besonders milden Urteilen gegen die Bedroher führen, eher im Gegenteil. Ich kann mich noch an die Zeit des RAF - Terrors in den 70ern erinnern, da wohnte zwei Häuser von uns entfernt ein OLG - Strafrichter, der auch mit solchen Fällen zu tun hatte. Da waren zwar häufiger Polizeistreifen zu sehen als in anderen Ecken, aber wirklich akut bedroht fühlte sich da kaum jemand, obwohl man im Gegensatz zu ordinären Straßenschlägern RAF - Terroristen tatsächlich zutrauen konnte, Richter anzugreifen.

2. Ich glaube auch nicht, dass jemand aus reiner Machgeilheit und Freude an Willkür und Unrecht den Aufwand eines mit Prädikat abzuschließenden Jurastudiums betreibt. Dieser Neigung können verbrecherische Naturen mit scharfem Verstand weniger aufwändig und auf finanziell lukrativere Art und Weise nachgehen.

Die einzige schlüssige Erklärung für völlig unverständliche Urteile scheint mir eine ideologisch verzerrte Wahrnehmung rechtssoziologischer / kriminologischer Gesichtspunkte zu sein, wenn nicht tatsächlich die in meinem obigen Beitrag etwas provokativ angeführten platten ökonomischen Gesichtspunkte eine Rolle spielen.

Eine ganz spezielle - unzulässige - Motivation könnte in Fällen äußerst restriktiven Umgangs mit dem Notwehrrecht hinzukommen: Man will einer Eskalation der Gewalt in der Öffentlichkeit und Selbstjustiz vorbeugen, kann die typischen kriminellen Aggressoren aber nicht wirksam abschrecken, also hält man sich an die Notwehr übenden Normalbürger, die sich eine berufliche Existenz aufgebaut haben und mit einer Gefängnisstrafe sehr viel mehr riskieren als asoziale Kriminelle.


Dabei handelt es sich um diesen Teil meiner Antwort:

2. Ich glaube auch nicht, dass jemand aus reiner Machgeilheit und Freude an Willkür und Unrecht den Aufwand eines mit Prädikat abzuschließenden Jurastudiums betreibt. Dieser Neigung können verbrecherische Naturen mit scharfem Verstand weniger aufwändig und auf finanziell lukrativere Art und Weise nachgehen.


Der Grund, das noch einmal zu überdenken, liegt insbersondere in dem bemerkenswerten Herrn Relotius. Der stand ja nach seinen jüngsten Einlassungen geradezu unter einem psychotischen Zwang, zu lügen. Bei einem manischen Lügner, der sich für den Journalistenberuf entscheidet, muss ich unweigerlich an Pyromanen denken, die sich der Berufsfeuerwehr andienen und dann Brände legen, um sie heldenhaft zu bekämpfen. Von "Todesengeln"in Pflegeberufen haben wir auch mehrfach gelesen.

Und nun Richter, die Gewaltopfer terrorisieren, Helfern in den Arm fallen und die Gewaltverbrecher grinsend und mit Victory - Zeichen aus den Gerichtspforten spazieren lassen ...

Wer weiß, vielleicht gibt es doch eine Art von dunklen Trieben, die ich nicht kenne und die irgendwelche Leute veranlassen, juristische Berufe zu ergreifen, um das Recht zu zerstören.
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Mi 14. Jul 2021, 10:11

Mal wieder ein bemerkenswerter Fall:

Gericht verurteilt Kiosk-Besitzer

Weil er sich zu spät gegen Angreifer wehrte

(...)

Dabei ging es zunächst bloß um ein kaputtes Handydisplay, welches der Ladenbesitzer Necmettin Cengiz zuvor für den Mann repariert hatte. Als dieses erneut zerbrach verweigerte Cengiz eine Kostenerstattung, solange dieser keine Quittung zu sehen bekäme, woraufhin die Situation eskalierte.

(...)

Laut „Bild“ erklärte er: „Ich bin auf die Knie gefallen, war benommen und musste mich sammeln. Ich habe keine Luft bekommen“. Kein Wunder, handelte es sich bei dem Angreifer doch um einen bereits vorbestraften Kampfsportler.

Es vergingen acht Sekunden, bis Cengiz schließlich zu einem Tischbein griff und damit seinerseits auf den Angreifer einschlug. Vor Gericht sagte der dreifache Vater später aus: „Er wollte einfach nicht gehen. Hätte ich einen Notausgang gehabt, wäre ich weggelaufen. Ich sah aber keinen anderen Ausweg.“

(...)


https://www.mann.tv/freizeit/gericht-ve ... fer-wehrte

Der Angreifer will also ohne Beleg Reparaturkosten erstattet bekommen, schlägt wegen der Verweigerung zu und bleibt im Laden? Ich verstehe das als Drohung, nochmal zuzuschlagen, wenn der Angegriffene der unberechtigten Forderung nicht nachgibt. Nach meiner Einschätzung sind da diese beiden §§ einschlägig:

https://dejure.org/gesetze/StGB/255.html

https://dejure.org/gesetze/StGB/249.html

https://dejure.org/gesetze/StGB/250.html

Eine schwere räuberische Erpressung könnte sich daraus ergeben, dass der freigesprochene Angreifer ein vorbestrafter Kampfsportler ist, dessen Faustschläge lebensgefährlich für den älteren Angegriffenen sein können. Ob einfache oder schwere räuberische Erpressung, der Angreifer hätte also eigentlich eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung bekommen müssen. Stattdessen kriminalisieren sie lieber den Verteidiger und verhöhnen erneut das naturrechtlich verwurzelte Notwehrrecht. Einen Gedanken an die Geschichte deutscher Staatsterroristen im Richteramt hat da wohl noch niemand verschwendet.

Siehe auch:

https://www.bz-berlin.de/tatort/mensche ... ewehrt-hat

https://www.bild.de/regional/berlin/ber ... .bild.html
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Sa 20. Nov 2021, 09:10

Dieses aktuelle Urteil ist geeignet, die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft weiter zu vertiefen und neue Gewalt zu generieren:

Tödliche Schüsse in Kenosha

Freispruch für US-Teenager Kyle Rittenhouse

Mit seinem Sturmgewehr hatte er bei Anti-Rassismus-Protesten im US-Bundestaat Wisconsin zwei Menschen erschossen und einen verletzt. Die Jury sprach den Teenager nun von den Vorwürfen des Mordes frei: Rittenhouse habe in Notwehr gehandelt. Das Urteil spaltet Amerika.

(...)

Der mit einem halbautomatischen Gewehr bewaffnete Rittenhouse war im August 2020 nach Kenosha im Bundesstaat Wisconsin gefahren und hatte sich dort bewaffneten Männern angeschlossen, die nach eigenen Angaben Geschäfte vor Plünderern schützten wollten.

(...)

Die Staatsanwaltschaft erklärte, Rittenhouse habe die Gewalt als selbsternannter „Hilfspolizist“ selbst provoziert. Er hätte nie mit einem Sturmgewehr nach Kenosha reisen dürfen.

Die Jury sprach den inzwischen 18-Jährigen nun nach viertägigen Beratungen von den Vorwürfen des Mordes, des Totschlags, des versuchten Mordes und der Gefährdung anderer frei.

(...)


https://www.faz.net/aktuell/politik/aus ... 43867.html

Bei der in diesem Fall strittigen Rechtsfrage, ob dem Angeklagten noch ein Notwehrrecht zustand, nachdem er sich die Rolle des bewaffneten Hilfspolizisten einfach mal so angemaßt hatte, handelt es sich nicht um ein spezifisch amerikanisches Rechtsproblem. Das Thema "Notwehrprovokation" hat auch die deutsche Rechtsprechung und Rechtswissenschaft lange Zeit beschäftigt und es gibt immer noch unterschiedliche Auffassungen dazu:

http://rechtslexikon.net/d/notwehrprovo ... kation.htm
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Do 24. Mär 2022, 12:58

Der "Drachenlord" muss (vorerst) doch nicht ins Gefängnis:

https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/ ... achenlord/

"Verminderte Schuldfähigkeit" ist immer schön bequem für die Justiz. Neben der Möglichkeit, den politischen Wunsch nach Aufhübschung der Kriminalstatistik zu bedienen, kann man so unbillige, weil zu harte, Urteile vermeiden und sich gleichzeitig davor drücken, konsequent echtes Recht zu sprechen und damit unerwünschte gesellschaftliche Entwicklungen zu fördern.

Ein Freispruch wegen Notwehr gegen einen menschenverachtenden Mob (vor allem deshalb, weil die Polizei hier versagt hat) wäre zwar juristisch sauber, aber auch gefährlich gewesen. Die Entwicklung der Gesellschaft geht derzeit in Richtung mehr Gewalt in der Öffentlichkeit.

Wenn man Notwehrübenden in dieser Situation sehr weite Spielräume lässt, droht eine Verschärfung des Problems in Gestalt einer Gewaltspirale.
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Re: Notwehr, Mittäterschaft & Co. - Fallsammlung

Beitragvon AlexRE » Sa 23. Jul 2022, 18:36

Ich habe mich auf Facebook mal zu einem der wütenden Auftritte von Carsten Stahl geäußert, der sich diesmal über das "feige" Wegschauen von Passanten bei Gewalt in einer Fußgängerzone aufregt:

https://youtu.be/rGYBQOqxVBc

DieHauptursache dafür, dass kein Passant den Opfern hilft, hat der oberschlaue und überlaute Herr Stahl hier völlig verpeilt. Er redet von der Gesellschaft, von Schulen und der Polizei, sieht aber anscheinend nicht, welche Auswirkungen die lange Reihe von Gerichtsurteilen, die das in Deutschland geltende Notwehrrecht geradezu verleugnet haben, auf die Bereitschaft der Normalbürger zur Nothilfe hatte.

Wenn ich fast sicher davon ausgehen muss, für anständiges Verhalten eine Vorstrafe zu kassieren und dem Aggressor Schadenersatz und Schmerzensgeld Zahlen zu müssen, kann ich mir Anstand eben nicht mehr leisten.

Gegen durchgeknallte Richter können Lehrer und Polizisten gar nichts machen und die Politiker gehen ungern Risiken für ihre Karrierewege ein. Die Gewaltenteilung ist ein zu heikles Thema für unsere gewöhnlichen Parteibuchapparatschiks.

Zur Erinnerung an einen der übelsten Fälle:

https://www.heise.de/tp/features/Muench ... 82688.html

Siehe hierzu auch:

viewtopic.php?f=7&t=91&start=81#p13719
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