Die Bestrebungen des Westens, Russland weltweit zu isolieren, stoßen auf Widerstand; die überwiegende Mehrheit aller Staaten nimmt nicht an den Russland-Sanktionen teil.
18
Mär
2022
BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Die Bestrebungen der transatlantischen Mächte, Russland möglichst weltweit zu isolieren, stoßen auf breiten Widerstand. Indien verweigert sich der Forderung, sich der Sanktionspolitik anzuschließen, arbeitet an einem alternativen, nicht auf SWIFT und den US-Dollar angewiesenen Zahlungssystem und plant eine Ausweitung seiner Erdölimporte aus Russland. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sperren sich gegen das Verlangen, ihre Ölförderung stark auszuweiten, um ein globales Ölembargo gegen Russland zu ermöglichen; der britische Premierminister Boris Johnson kehrte gestern nach Verhandlungen auf der Arabischen Halbinsel mit leeren Händen heim. Mehrere Staaten Südamerikas, darunter Argentinien, Brasilien und Chile, machen Druck, zumindest russische Düngemittelexporte zu ermöglichen; andernfalls, heißt es, sei die globale Versorgung mit Lebensmitteln in Gefahr. Die Staaten Lateinamerikas sowie Afrikas halten sich von der Sanktionspolitik ebenso fern wie die Türkei, beinahe alle Staaten Südostasiens und des Nahen und Mittleren Ostens sowie China. Die im Westen beliebte Aussage, Russland sei „in der Welt isoliert“, trifft nicht zu.
Alternative Zahlungskanäle
Zu den Staaten, die die kategorische Forderung des Westens, Russland zu isolieren, bislang an sich abprallen lassen, gehört Indien. New Delhi arbeitet seit Jahrzehnten eng mit Moskau zusammen, das unter anderem sein bis heute bedeutendster Rüstungslieferant ist. Vor allem aber ist es bemüht, sich außenpolitische Eigenständigkeit zu bewahren; es kooperiert im Machtkampf gegen China eng mit den USA, zeigt aber wenig Interesse, sich davon absorbieren zu lassen, und ist daher um die Bewahrung tragfähiger Beziehungen zu Moskau bemüht.[1] Auf Kritik, man dürfe einen Staat, der einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führe, nicht unterstützen, wird – nicht nur – in Indien regelmäßig auf den US-Überfall auf den Irak von 2003 und auf die damals und in den Jahren danach verübten Kriegsverbrechen westlicher Militärs hingewiesen.[2] Die Zentralbanken Indiens und Russlands sind derzeit bemüht, alternative Zahlungskanäle zwischen beiden Ländern zu öffnen, die weder den Zahlungsdienstleister SWIFT noch den US-Dollar benötigen.[3] Zudem wird in Kürze die Einigung auf eine Ausweitung der russischen Erdöllieferungen an Indien erwartet.[4] Nicht zuletzt hat Russlands stellvertretender Ministerpräsident Alexander Nowak New Delhi wechselseitige Investitionen in die Öl- und Gasbranche der beiden Länder vorgeschlagen.[5] Griffen indische Konzerne zu, träten sie womöglich an die Stelle von BP, Shell und ExxonMobil, die Russland verlassen.
Auf Granit gebissen
Auf Granit beißt der Westen bislang auch in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. In den vergangenen Tagen hielten sich eine hochrangige US-Delegation sowie der britische Premierminister Boris Johnson in Riad und in Abu Dhabi auf, um die dortigen Regierungen zu einer drastischen Ausweitung ihrer Erdölförderung zu bewegen. Das gilt als unverzichtbare Voraussetzung dafür, den Ölboykott gegen Russland auszuweiten. London strebt nach Möglichkeit einen weltweiten Boykott an.[6] Weder Saudi-Arabien, wo Johnson kurz nach der größten Massenhinrichtung in der jüngeren Geschichte des Landes eintraf, noch die Emirate erklärten sich allerdings nach dem Gespräch zu Zugeständnissen bereit, die über die geringfügige Erhöhung der Fördermenge hinausgehen, die sie zuvor mit Moskau im Rahmen der OPEC+ beschlossen hatten. Beide Länder sind intensiv bemüht, ergänzende Alternativen zum Bündnis mit den USA aufzutun, deren Schutzversprechen sie nicht mehr für zuverlässig halten; der überstürzte US-Abzug aus Afghanistan und jüngst die Weigerung, der Ukraine militärischen Beistand zu leisten, haben das Misstrauen gegenüber Washington verstärkt. Riad und Abu Dhabi bauen ihre Zusammenarbeit nicht nur mit Moskau, sondern auch mit Beijing verstärkt aus; Saudi-Arabien plant, Erdölexporte nach China in Zukunft nicht mehr in US-Dollar, sondern in chinesischen Yuan abzuwickeln. Das wäre ein symbolisch ernstzunehmender Schlag gegen die US-Dollardominanz.[7]
Nahrungsmangel und Hunger
Massiver Protest gegen den westlichen Sanktionsfuror wird seit einigen Tagen in Südamerika laut. Ursache ist, dass die Sanktionen die Lieferung von Düngemitteln aus Russland praktisch zum Erliegen gebracht haben. Russland, einer der größten Düngerproduzenten der Welt, deckte bisher zum Beispiel fast ein Fünftel des Bedarfs in Brasilien, einem der bedeutendsten Agrarproduzenten weltweit. Der globale Düngemittelmarkt war bereits vor der Verhängung der Sanktionen gegen Russland angespannt, weil die westlichen Mächte Boykottmaßnahmen gegen einen weiteren Großhersteller verhängt hatten – gegen Belarus. Nun droht die Situation untragbar zu werden. Brasilien hat sich in der vergangenen Woche mit den anderen Staaten des Mercosur-Bündnisses (Argentinien, Paraguay, Uruguay), mit Chile und mit Bolivien zusammengetan, um eine Befreiung russischer Düngemittellieferungen von den westlichen Sanktionen zu erreichen. Andernfalls drohten nicht bloß ein dramatischer Preisanstieg bei den Nahrungsmitteln weltweit, sondern womöglich sogar Nahrungsmangel und Hunger, warnt die brasilianische Agrarministerin Tereza Cristina da Costa Dias.[8] Zusätzlich ist Brasilien zur Zeit bemüht, Lieferungen aus einem weiteren Land zu erhalten, das beträchtliche Kapazitäten zur Düngemittelproduktion besitzt, sie aber nicht in vollem Maß nutzen kann, da Sanktionen der USA den Handel verhindern – Iran. Aktuell sind bargeldlose Tauschgeschäfte im Gespräch: iranischer Dünger gegen brasilianische Baumwolle.[9]
Nicht nachgegeben
Darüber hinaus gelingt es den westlichen Mächten weiterhin nicht, zusätzliche Staaten zur Übernahme der Russland-Sanktionen zu gewinnen. In Afrika und in Lateinamerika hat bisher kein Land Strafmaßnahmen gegen Russland verhängt; dies trifft zudem auf den Nahen und Mittleren Osten zu. In Südostasien ist Singapur mit seiner Teilnahme an den Sanktionen nach wie vor isoliert. Sogar das NATO-Mitglied Türkei weigert sich unverändert, zusätzlich zur Sperrung des Bosporus und der Dardanellen für russische Kriegsschiffe Maßnahmen zu ergreifen. Die EU macht Druck – bislang allerdings vergebens. So forderte ihr Botschafter in Ankara, Nikolaus Meyer-Landrut, die türkische Regierung kürzlich auf, die Sanktionen gegen Russland nicht zu unterlaufen. Das bezieht sich beispielsweise darauf, dass Exporteure aus Afrika und aus Südamerika Agrarprodukte über die Türkei nach Russland zu liefern versuchen. Er „erwarte“ von der Türkei, verlangte Meyer-Landrut zudem, dass sie „russische Propaganda-Sender“ einschränke.[10] Bislang zeigt Ankara keinerlei Anstalten, dem Druck aus der EU und aus den Vereinigten Staaten nachzugeben: Neben seinen engen Beziehungen zu Kiew hält es auch an seinem erfolgreichen Arbeitsverhältnis mit Moskau fest und ist auf dieser doppelten Grundlage mit der Vermittlung zwischen den beiden Kriegsparteien befasst.
Kein Erfolg
Nicht zuletzt beharrt auch China darauf, seine Beziehungen zu Russland nicht durch die Verhängung von Sanktionen zu beschädigen. Zu Wochenbeginn hatte ein Sprecher des US-Außenministeriums erklärt, Washington habe „große Sorge“, Beijing könne Moskau zu Hilfe eilen: „Wir haben Beijing sehr deutlich mitgeteilt, dass wir es keinem Land erlauben werden, Russland für seine Verluste zu kompensieren“.[11] Chinas Außenminister Wang Yi äußerte daraufhin, sein Land sei „in der Krise keine Partei“, und es wolle sich daher von den US-Sanktionen nicht treffen lassen: „China hat das Recht, seine legitimen Rechte und Interessen zu schützen.“ Damit hält sich der überwiegende Teil aller Staaten bislang von dem westlichen Sanktionsregime fern; das Bestreben der westlichen Mächte, auch Deutschlands, sie zur Übernahme der Strafmaßnahmen zu veranlassen, hat weiterhin keinen Erfolg.
Quelle:
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8874
Ich stehe hinter jeder Regierung, bei der ich nicht sitzen muss, wenn ich nicht hinter ihr stehe.
Werner Finck