Art 9 GG(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.
(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.
Mediale Menschenjagd
Tom Strohschneider über die aggressive Stimmungsmache gegen die GDL, das Streikrecht und warum jetzt lautstarker Widerspruch nötig ist
http://www.neues-deutschland.de/artikel ... njagd.htmlDie Macht der wenigen
Berufsgruppen wie Fluglotsen und Lokführer können mit Streiks
das Land lahmlegen. Der Arbeitskampf braucht neue Regeln.
Von Bernd Rüthers
Kleine, gut organisierte Gruppen
von Arbeitnehmern erzwingen
durch kurze Streiks spektakuläre
Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen:
erst die Fluglotsen, dann das Cockpitpersonal
und die Lokführer, nun die
Vorfeldmitarbeiter des Frankfurter Flughafens.
Ihre Streiks treffen große Teile
der Bevölkerung. Sie legen lebenswichtige
Funktionsbereiche der Gesellschaft
lahm. Anders gesagt: Bei Streiks von
Funktionseliten kann die streikführende
Gewerkschaft die Arbeitgeber zum Nachgeben
zwingen. Gesellschaft und Staat
sind erpressbar. Was kann man dagegen
tun?
Bei den Streiks von Kleingewerkschaften
überlagern sich mehrere Problembereiche.
Zunächst hat die Tarifautonomie
den Zweck, das auf der Ebene des Einzelarbeitsvertrages
gestörte Verhandlungsgleichgewicht
zwischen Arbeitgebern
und Arbeitnehmern auf der kollektiven
Ebene auszugleichen. Sie kann das aber
nur, wenn ein ungefähres Verhandlungsgleichgewicht
besteht. Das Grundgesetz
garantiert die freie Gewerkschaftsgründung
für „jedermann und alle Berufe“.
Es begründet also kein Tarifoligopol von
Großgewerkschaften, sondern die Gewerkschaftspluralität,
auch ihren möglichen
Wettbewerb. Hinter den genannten
Streiks steckt ja auch meistens der Konkurrenzkampf
zwischen einer kleinen
und einer großen Gewerkschaft: die der
Lokführer gegen die Eisenbahngewerkschaft,
die der Flugsicherung gegen die
Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.
In diesem Konkurrenzkampf stehen
die Arbeitgeberverbände regelmäßig auf
der Seite der Großgewerkschaften. Sie
fürchten den radikalen Überbietungswettbewerb
der Kleingewerkschaften
und die Gefährdung der Ordnungs- und
Friedensfunktion des tradierten Flächentarifvertrages.
Sie wollen, in seltener Einmütigkeit
mit ihrem Gegenspieler DGB,
die Tarifeinheit gesetzlich vorgeschrieben
sehen. In jedem Unternehmen und
Betrieb soll es nur einen Tarifvertrag geben.
Das dient auch dem beiderseitigen
Machterhalt.
Tarifverbände sind Kartelle. Wegen
des besonderen Machtgefälles zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern macht
die Rechtsordnung hier eine Ausnahme
vom gesetzlichen Kartellverbot. Aber
auch die Tarifkartelle sind soziale Machtkonzentrate
und können, wie die Beispiele
zeigen, von ihren Funktionären zum
Schaden der Gesamtordnung missbraucht
werden.
Eine gesetzliche Regelung der Frage
fehlt; keine Regierung wagt sich bisher
daran. So regiert das Richterrecht des
Bundesarbeitsgerichts. Es hat die Schädigung
Dritter durch mutwillige Streiks erleichtert.
Lange war es rechtlich zwingend,
dass Streiks als letztes Mittel erst
dann eingesetzt werden dürfen, wenn alle
Verhandlungen und ein Schlichtungsversuch
gescheitert sind. Diesen Grundsatz
hat das Gericht liquidiert. Das letzte
ist zum ersten Mittel geworden – schon
vor dem Beginn von Tarifverhandlungen.
Die Frage, ob ein Streik rechtmäßig
ist, wird an seiner „Verhältnismäßigkeit“
geprüft. Das Ergebnis ist für keine
Partei vorhersehbar. Klare Kriterien fehlen
– eine maximale Rechtsunsicherheit,
die dringend beseitigt werden muss.
Die Erfahrungen mit den Spartengewerkschaften
zeigen, dass jeder Missbrauch
der Arbeitskampfmacht, ob er
groß erscheint oder klein, immense Schadensrisiken
für unbeteiligte Dritte birgt.
Dem kann die Gesetzgebung nicht untätig
zusehen. Die Daseins- und Betätigungsgarantie
der Kleingewerkschaften
ist in der Verfassung garantiert. Das ist
nicht verhandelbar. Andererseits ist die
vernetzte Gesellschafts- und Staatsordnung
heute so störanfällig, dass jeder
Missbrauch der tariflichen Kartellmacht
das Gesamtsystem gefährden kann. Die
Besonderheit der Streiks von Funktionseliten
liegt gerade darin, dass sie Schäden
nicht nur bei den (meist öffentlichen)
Arbeitgebern, sondern sogar primär bei
Massen von unbeteiligten, wehrlosen
Dritten anrichten.
Das zwingt zu der Frage, ob für den Bereich
der Versorgung der Bevölkerung
mit lebenswichtigen Gütern und die Sicherung
fundamentaler Bürgerrechte im
Bereich der Daseinsvorsorge der Arbeitskampf
noch ein geeignetes Hilfsmittel
der Tarifautonomie ist. Mindestens die
Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung
mit Strom, Wasser und Gas, die
notwendige medizinische Betreuung in
Notfällen und von Schwerkranken sowie
die Verhinderung von Infektions- und
Seuchengefahren gehören zu den unabdingbaren
Schutzpflichten des Staates;
ebenso die Aufrechterhaltung von Teilen
des öffentlichen Kommunikationssystems
(Telefon, Internet, Fax, Notrufsysteme)
sowie Grundfunktionen des Verkehrswesens
zur Wahrung eines Mindestmaßes
von Freizügigkeit.
Für den Kernbereich der unverzichtbaren
Daseinsvorsorge ist daher zu prüfen,
ob der Arbeitskampf durch andere Formen
des Interessenausgleichs abzulösen
ist. Als Ersatz könnten gesetzlich
eingerichtete, von den Tarifparteien
paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse
unter neutralem Vorsitz dienen,
deren Spruch für beide Parteien bindend
wäre.
Zur Entstehung dieser Misere hat der
Staat erheblich beigetragen. Wenn er zentrale
Bereiche der Daseinsvorsorge privatisiert
und zugleich – wie bei der Flugsicherung
– jeden Wettbewerb verhindert,
dann fördert das die Entstehung und die
Schlagkraft von Spartengewerkschaften.
Die Gesetzgebung steht mithin vor
schwierigen und drängenden Aufgaben.
Die Regelung eines Teils der genannten
Probleme lässt sich nicht länger aufschieben.
Der Widerstand der mächtigen Verbandszentralen
der Gewerkschaften und
der Arbeitgeber ist vorhersehbar.
Die vom Gewerkschaftsbund und der
Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände
jetzt gemeinsam geforderte,
gesetzlich vorgeschriebene Tarifeinheit
würde die Kleingewerkschaften aus
der Gewerkschaftskonkurrenz ausschalten.
Das Besondere dieser Koalition der
Großverbände besteht darin, dass gerade
sie bisher gesetzliche Regelungen des Arbeitsrechts
regelmäßig verhindert haben.
So sind die Gerichte von Dienern
der Gesetze zu alleinigen Herren des Arbeitskampfrechts
aufgestiegen.
Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber
auf diese Weise gemeinsam agieren,
ist Vorsicht geboten. Denn solche Aktionen
der Großverbände können die verfassungsmäßige
Grundordnung durch
den Einsatz von Verbandsmacht in Frage
stellen. Wir stehen vor spannenden Zeiten.(SZ 24.03.2012)