Wer glaubt, wir hätten die Zeiten von Inquisition und Religionskriegen hinter uns gelassen, hat die Rechnung ohne die Islamisten gemacht.
11.11.2020
Von Hamed Abdel-Samad
Paris, Dresden, Nizza und Wien: Der islamistische Terror trifft Europa mitten ins Herz. Nun hört man die üblichen Sonntagsreden und Durchhalteparolen: «Keine Toleranz der Intoleranten.» – «Wir werden die Freiheit mit aller Härte verteidigen.» – «Die Terroristen werden unseren Lebensstil nicht verändern.» Aber stimmt das wirklich? Wann hat Europa den Intoleranten zuletzt die Grenzen aufgezeigt? Wann hat es zuletzt für die Freiheit gekämpft? Haben die Terroristen den hiesigen Lebensstil wirklich nicht verändert?
Als ich vor 25 Jahren nach Deutschland kam, konnte ich von München nach Paris, Wien, Rom oder Kopenhagen fliegen, ohne nennenswerte Sicherheitsmassnahmen zu durchlaufen. Ich konnte unbeschwert durch einen Weihnachtsmarkt schlendern, ohne Explosionen zu fürchten. Frauen konnten zu jeder Tageszeit allein im Wald joggen, ohne Angst vor Belästigung zu haben. Religionskritik gehörte selbstverständlich zur medialen Berichterstattung.
Heute erinnern europäische Flughäfen und Weihnachtsmärkte an Kasernen. Frauen wird empfohlen, eine Armlänge Abstand zu fremden Männern zu halten. Religionskritik ist unerwünscht.
Gepanzerte Wagen
Ich kam aus Ägypten nach Europa, um in Freiheit zu leben und meine Meinung sagen zu können, ohne um mein Leben fürchten zu müssen oder im Gefängnis zu landen. Heute fürchte ich um mein Leben und lebe fast wie im Gefängnis. Ich fahre nur noch in gepanzerten Wagen. Polizeibeamte begleiten mich auf Schritt und Tritt. Trete ich öffentlich auf, trage ich eine schusssichere Weste.
Dschihadisten haben mehrmals zu meiner Ermordung aufgerufen, weil ich den Propheten Mohammed kritisiert hatte. Solche Religionskritik hiess im Europa von Voltaire, Kant und Feuerbach Aufklärung. Heute gilt sie als islamophober Kulturrassismus. Religionskritiker müssen sich verstecken, während Salafisten und islamistische Gefährder frei herumlaufen, predigen und morden.
Die Europäer haben ihren Lebensstil den Islamisten angepasst, nicht umgekehrt. Europa ist es nicht gelungen, den Islam zu modernisieren, aber dem Islam ist es gelungen, Europa zu islamisieren. Europa lässt sich von den Fanatikern erpressen und ist nicht mehr bereit, für seine Freiheit zu kämpfen.
Darum trifft der Terror den Kontinent so hart: weil er seine Werte aufgegeben hat. 230 Jahre nach Voltaire werden Satiriker und Lehrer öffentlich massakriert. Und die Antwort darauf? Man schreibt «Je suis Charlie» auf Twitter, aber unterstützt Islamisten, indem man deren Kritiker vom öffentlichen Diskurs weitgehend ausschliesst. Diese Kritiker gelten im Multikultiparadies bestenfalls noch als Störenfriede. Provokativ formuliert: Nur ein toter Islamkritiker ist ein guter Islamkritiker.
Bestenfalls Störenfriede
Seit dem 11. September 2001 versagt Europa auf der ganzen Linie im Umgang mit dem politischen Islam. Eine Kultur des Hasses und der Bevormundung kann nicht mit Leitideologien wie Multikulti und Political Correctness bekämpft werden, denn genau damit bietet man den Feinden der Demokratie viele sichere Räume.
Ein paar Beispiele: Man wollte nach den Anschlägen von New York Muslime vor Hass und Ausgrenzung schützen und hat ihnen deshalb Fördergelder bereitgestellt und sie mit Integrationsaufgaben beauftragt. Man hat den Islamunterricht an deutschen und österreichischen Schulen eingeführt, dessen Durchführung die muslimischen Organisationen gestalten und überwachen durften, und erklärte den Islam zu einer Religion des Friedens.
Auf der anderen Seite galt Islamkritik plötzlich als bigott und spalterisch. Die Medien befragten regelmässig Vertreter islamischer Organisationen, die sich ebenso regelmässig über Rassismus und Islamophobie beschwerten.
Und was war das Ergebnis? Haben wir heute weniger Radikalisierung und weniger Terrorismus? Haben wir weniger Hass auf Muslime? Haben wir weniger Rechtsradikalismus? Nein, nein und nochmals nein.
Die Europäer haben übersehen, dass sich die Verhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben. Kamen im 20. Jahrhundert eher säkulare Gastarbeiter aus der Türkei, Algerien und Marokko, werden deren Söhne und Töchter im 21. Jahrhundert in Europa zunehmend islamisiert. Die Golfstaaten haben viel Geld in europäische Moscheen investiert und dadurch die Ideologie des Salafismus hierhergebracht. Zudem ist die Muslimbruderschaft in Europa sehr aktiv und hat mehrere Zentren und Organisationen auch an Universitäten errichtet.
Entfesselter Erdogan-Kult
Eine besondere Rolle spielt die Türkei. Die Machtergreifung des türkischen Präsidenten Erdogan hatte einen grossen Einfluss auf das Islamverständnis der hier lebenden Türken. Durch seine verlängerten Arme in Europa, das heisst die türkisch-islamischen Organisationen und die Migrantenverbände, konnte Erdogan den Islamismus und den türkischen Nationalismus stärken.
Plötzlich waren die Partner der europäischen Staaten in Sachen Bekämpfung von Radikalismus und Islamismus selbst Islamisten. Statt für mehr Demokratie und Freiheit in ihren Vereinen und Moscheen zu werben, entfesselten sie einen Erdogan-Kult, der mit unseren Steuergeldern finanziert wurde, und förderten den Islamismus und den türkischen Nationalismus.
Erdogan begnügte sich aber nicht damit, die hier lebenden Türken aufzuwiegeln, um Europa zu erpressen. Er fing an, eine aggressive Machtpolitik in Syrien, im Irak, in Libyen und nun in Armenien zu betreiben. Er verbündete sich mit Dschihadisten in diesen Ländern, aber auch in Europa und setzte islamistische Söldner als Mördertruppen ein, um seine politischen Ziele zu erreichen. Erdogan wurde Anführer des politischen Islam in der Welt, aber er blieb Europas Partner, obwohl er ständig gegen Europa hetzt. Wie soll das funktionieren?
Aufwertung der Gefühle
Nach der Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty hätte ich von Erdogan und seinen Anhängern in Europa erwartet, dass sie den Terrorismus deutlich verurteilen. Stattdessen wurde eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Muslime inszenierten sich als Opfer der Mohammed-Karikaturen, die ihre Gefühle verletzt haben sollten.
Diese Aufwertung der Gefühle auf Kosten von Argumenten ist ein Teil des linksliberalen Multikultikonzepts. Dort gibt es eine Art Hierarchisierung der Opfer. Opfer von rechtsradikalen Anschlägen wiegen mehr als Opfer des islamistischen Terrors, denn für sie kann nur der weisse Europäer der Aggressor sein.
Erdogan interessiert sich eigentlich weder für Multikulti noch für die Gefühle der Muslime. Er benutzt beide nur als Pulver für seine Machtpolitik im Nahen Osten und auch in Europa. Er spürt, dass Europa viel zu schwach und viel zu erpressbar ist, um ihm die Grenzen aufzuzeigen. Schliesslich überwacht er die europäischen Grenzen und hält die Flüchtlinge davon ab, nach Europa zu strömen.
Deshalb ruft er nun zum Boykott gegen Frankreich auf, nennt die Niederländer Nazis und hält die Assimilation der hier lebenden Türken für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Trotzdem wagt es kaum ein europäischer Politiker, Sanktionen gegen Erdogan zu verhängen. Es bleibt bei den üblichen Sonntagsreden und kostenlosen Verurteilungen.
Der politische Islam hat die Länder des Nahen Ostens zerstört. Nun versucht Erdogan, dies in Europa zu vollbringen. In den Ländern des Nahen Ostens widerstanden ihm immerhin Königsfamilien und Militärregierungen. In Europa hingegen fehlen die Kraft, die Entschlossenheit und der Glaube an die eigenen Werte, um den Islamismus, wie ihn Erdogan vorantreibt, zu stoppen. Deshalb, so fürchte ich, waren Paris, Nizza, Dresden und Wien nur der Anfang.
Verkrampfte Streitkultur
Europa muss sich auf etwas gefasst machen. Wer glaubte, wir hätten die Zeiten von Inquisition und Religionskriegen hinter uns gelassen, machte die Rechnung ohne die Islamisten.
In meinem neuen Buch «Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf» mahne ich, dass Europa mit Schuldkult, Multikulti, falsch verstandener Toleranz und verkrampfter Streitkultur diese Entwicklung nicht mehr aufhalten kann. Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein, mehr Entschlossenheit und mehr Mut in diesem Kampf, der die Zukunft dieses Kontinents entscheiden wird.
https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2020- ... -2020.html
Hamed Abdel-Samad ist ein deutsch-ägyptischer Politikwissenschaftler. Eben ist sein neues Buch erschienen: Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf. DTV. 224 S., Fr. 29.90
Markus Spycher
12.11.2020|09:45 Uhr
Ach, Religionen werden und wurden doch immer nur vorgeschoben. Alles scheinheilig. Machtgier, finanzielle Interessen und Territorialansprüche sind die wahren Triebfedern für Missionen, "Aufträge", und imperialistische Kriegführung. Das ist auch in Nordirland nicht anders. Und ja, mittelalterliche und neuzeitliche Fürsten haben nicht umsonst gewisse Religionen zu Staatskirchen gemacht.